top of page

Wenn Ungewissheit ein Land beherrscht

Autorenbild: Rahel ErniRahel Erni

Die Welt wird momentan von einem Virus lahmgelegt. Und natürlich macht es auch vor Tanzania keinen Halt. Und obwohl die aktuellen Zahlen der Erkrankten und Toten im Vergleich zu denen in Europa verschwindend klein sind, stellt es auch hier den Alltag auf den Kopf. Wie ich die Situation hier erlebe und welche Befürchtungen und Hoffnungen mich in den letzten Tagen herumtrieben, möchte ich euch in diesem Beitrag etwas näherbringen.

 

Gerade wenn man denkt, man hätte es geschafft...

Am Tag unserer Ankunft, gab es nach offiziellen Angaben noch keine Personen, die an COVID-19 erkrankt waren. Trotzdem wurden bereits Sicherheitsvorkehrungen getroffen:

Alle Einreisenden mussten sich registrieren lassen, die Körpertemperatur wurde gemessen und notiert und Hände desinfizieren war für alle Pflicht. Ansonsten schien aber alles ganz normal zu sein.

Ich war irgendwie froh darüber, für einen Abend nichts von diesem Virus zu hören. In der Schweiz gab es nämlich die letzten Tage kein anderes Gesprächsthema mehr und nichts hat mich vor der Abreise mehr genervt als die unnötigen Hamsterkäufe.


Aber die Ruhe hielt nicht lange an: Am Tag darauf erhielt ich per Live-Ticker ständig Updates darüber, wie stark sich die Situation in der Schweiz verschlechterte: Schulen und Geschäfte wurden geschlossen, Homeoffice angeordnet, Notfallpläne für Spitäler erstellt... den Rest kennt ihr ja alle besser als ich.

Und spätestens als klar wurde, dass die meisten Flüge gestrichen wurden, waren wir wirklich froh, dass wir dem grössten Übel noch knapp entkommen konnten. Unvorstellbar war der Gedanke nun doch in der Schweiz bleiben zu müssen. Vor allem meine Eltern hätten mir leid getan, wenn sie mich noch länger hätten beherbergen müssen :-) Es fühlte sich ein wenig so an, als hätten wir Corona ausgetrickst. Trotzdem nahmen wir unsere Verantwortung wahr und begaben uns freiwillig für 14 Tage in Quarantäne.


Es dauerte keinen weiteren Tag, da wurde über die staatlichen Medien verkündigt, dass in Tanzania die erste Person positiv getestet wurde. Eine Welle des Schocks ging durch die Gesellschaft. Das Virus war bis jetzt weit weg. Ein Phantom, welches sich in Europa und Asien umtrieb und plötzlich ist es vor der eigenen Tür.

Der amtierende Präsident schien gut beobachtet zu haben, was die europäischen Länder so taten und ordnete per sofort die Schliessung aller Schulen an. Die Konsequenz daraus: Eine "Massenwanderung" von x-tausenden Schüler*Innen, die die Internate verliessen und durch das halbe Land nach Hause reisten.

Parallel dazu war ein Phänomen zu beobachten, welches wir bereits aus der Schweiz kannten: Lange Schlangen vor den Supermärkten und Apotheken. Die Reichen hamsterten in den Läden alles, was sie in ihre Autos laden konnten. Die Preise für Lebensmittel und Hygieneartikel schnellten innert wenigen Stunden in der ganzen Stadt in die Höhe. Die Leidtragenden waren wieder die, die sonst schon kaum etwas haben.

 

Die Unsicherheit in der Gesellschaft

Zwei Tage lang waren alle wie auf Nadeln. Ich wurde beim Joggen von der Polizei angehalten und aufgefordert mich auszuweisen. Mit ein bisschen Verhandlungsgeschick und dank meiner Sprachkenntnisse konnte ich mich irgendwie rausreden und sie liessen mich gehen. Später vernahm ich von anderen Migranten und Migrantinnen, dass auch sie auf der Strasse kontrolliert wurden. Wer nicht beweisen konnte, dass er/sie schon vor der Corona-Krise ins Land gekommen ist, wurde in Zwangs-Quarantäne gesetzt. Wir führten unsere freiwillige Selbstisolation fort und schützten uns dadurch auch vor potenziellen Konflikten auf der Strasse.

Nachdem der Präsident zu Beginn mit seinen Massnahmen alle aufhorchen liess, wechselte er ziemlich schnell wieder seine Meinung: Bereits am dritten Tag verkündigte er, dass die Krise überwunden ist und es keine Neuansteckungen mehr gibt. Die Politiker*Innen der Oppositionspartei indes wiesen auf die offiziellen Fallzahlen der WHO hin, welche die Situation klar anders darstellte.

Das Misstrauen und die Angst blieb und so hielt man an den eingeleiteten Sicherheitsvorkehrungen fest: Vor dem Betreten aller Geschäfte muss man sich die Hände waschen, man begrüsst sich nur noch mit sicherer Distanz und grössere Bars, Hotels und Restaurants wurden geschlossen. Ich persönlich bin positiv überrascht, wie schnell die Bevölkerung reagierte und wie konsequent sie sich an diese Vorsichtsmassnahmen halten. Aber klar ist, dass eine konsequente Umsetzung des "Social Distancing" in einem Land wie Tanzania schlichtweg nicht umsetzbar ist: Die Leute müssen am Morgen ihr Haus verlassen um z.B. ihre Waren zu verkaufen, damit sie am Abend etwas zu essen haben. Viele Personen leben gemeinsam in kleinsten Wohnungen oder Häusern, in denen sie unmöglich den ganzen Tag ausharren können. Die einzigen Fortbewegungsmittel sind häufig überfüllte Busse oder Motorrad-Taxis, auf die man sich zu dritt oder viert quetscht. Wer nicht zur Arbeit geht, hat auch kein Anrecht auf einen Lohn und die Kinder hierzulande dazu anzuhalten nicht mehr mit den Nachbarskindern zu spielen ist schlichtweg utopisch. Dazu kommt, dass Hilfsmittel wie Schutzmasken, Handschuhe und Desinfektionsmittel Luxusgüter und für die wenigsten nicht zugänglich sind. Und schlussendlich gibt es Gegenden, in denen sogar regelmässiges Hände waschen nicht möglich ist, weil dazu Wasser und Seife fehlen.


Im Gespräch mit den Leuten wurde mir klar, wie schwierig es für sie ist, die Lage einzuschätzen. Die Menschen sind darüber informiert, wie die Situation in Europa momentan aussieht und das macht ihnen grosse Angst. Auf der anderen Seite erklärt der eigene Präsident, dass die Krankheit harmlos sei, währenddem die Regierung weiterhin an den Sicherheitsvorkehrungen festhält. Tag für Tag häufen sich Gerüchte und gefährliches Falschwissen. Alle haben eine andere Theorie, mit welchen Heilmittel man sich vor Corona schützen kann. Die Unsicherheit in der Gesellschaft ist überall spürbar und schlägt zum Teil in grosses Misstrauen um.

 

Leere Schulen und volle Kirchen Nach 14 Tagen Selbst-Isolation ging es endlich nach Ifakara - in dieses Dorf, wo ich die Mädchenschule und das Jugendzentrum aufgebaut habe. Auf dem Weg dorthin wurde ich auf der Strasse mehrmals beschimpft. Die Leute gingen spürbar auf Distanz, aus Angst davor, dass ich sie anstecken könnte. Normalerweise werde ich mit "Mzungu" (Swahili für "Weisse") oder "Dada" (Swahili für "Schwester") angesprochen, momentan nennt man mich aber "Corona". Ich kann darüber noch schmunzeln, aber es zeigt, wie ich als Bedrohung wahrgenommen werde.


Die Mädchenschule verlassen vorzufinden, versetzte mir einen Stich ins Herz. Obwohl ich weiss, dass die Mädchen wieder zurückkommen werden, ist es doch komisch alle Schulzimmer leer zu sehen. Mir fehlt das Erklingen der Schulglocke, die Stimmen der Mädchen, wenn sie zwischen den Lektionen jeweils die Schulzimmer wechseln, die Rufe der Lehrpersonen, wenn sie zu Ruhe und Ordnung mahnen... aber am meisten fehlen mir die Umarmungen. Wenn ich die Schule jeweils besuchte, fiel der Empfang immer unglaublich herzlich aus. Normalerweise begrüssen wir uns alle mit erfreuten Handschlägen oder fallen uns überglücklich in die Arme. Nun gibt es noch ein scheues Winken aus sicherer Distanz von den Mitarbeitenden, die ab und zu an die Schule kommen, um die freie Zeit irgendwie zu vertreiben.

Was mich hingegen erfreute, war die rege Nutzung der Sportanlagen unseres Jugendzentrums. Die Jugendlichen, welche auf Grund der Vorschriften nicht mehr zur Schule gehen können oder keine Arbeit haben, versammelten sich täglich vor dem Zentrum. Sie kamen, um den Platz zu reinigen, das Gras zu schneiden oder um sich sportlich zu betätigen. Es war schön zu sehen, dass sich die Jugendlichen inzwischen selbstständig organisieren und sich selbst beschäftigen, um nicht auf der Strasse auf eine falsche Bahn zu kommen.

Leider stand vor Kurzem die Polizei vor meiner Tür. Sie hielten mich an, das Jugendzentrum und die Sportanlagen per sofort zu schliessen. Die Enttäuschung bei den Jugendlichen war gross, das Verständnis leider eher klein...

Und ganz verübeln kann ich es ihnen nicht. Führen doch z.B. die Kirchen und Moscheen ihre Aktivitäten wie gehabt fort. Besonders jetzt vor Ostern sind die Kirchen überfüllt und somit der perfekte Ort für Viren sich schnell zu verbreiten. Auf der anderen Seite ist der Glaube für viele hier noch die einzige Möglichkeit irgendeinen Umgang mit dieser ungewissen Situation zu finden. Somit ist auch der meistgebrauchte Satz momentan "Tuombee Corona iishe haraka" (Lasst uns dafür beten, dass Corona bald vorbei ist). Wie viel dies im Ernstfall dann wirklich nützt, weiss ich nicht. Aber es gibt den Leuten spürbar Kraft und Hoffnung.

 

Und was tut die Regierung?

Im Kampf gegen Corona schreibt sie Komiker zur Fahndung aus. Und das ist kein Witz! Ein Komiker hat auf den Strassen verschiedene Leute interviewt und sie gefragt was sie davon halten, wenn jetzt COVID-19 in ihre Stadt gebracht wird. Die meisten antworteten in vollkommener Unwissenheit, dass sie dies sehr gut fänden und sich darauf freuen. Auf die Frage wie viel COVID-19 sie denn wollen, antworteten sie z.B. mit "es kann gar nicht genug davon geben, am besten soll es täglich nachgeliefert werden". Der Komiker wollte damit auf tragisch-lustige Weise aufzeigen, dass die Leute sehr schlecht informiert sind. Die Reaktion der Regierung war tatsächlich, dass der Mann zur Fahndung ausgeschrieben und inzwischen verhaftet wurde.


Bildung fördert die Gesundheit, bekämpft die Armut und führt ein Land zur Unabhängigkeit. Ein gebildetes Volk ist aber schwieriger zu regieren. Diese Devise gilt also auch in Zeiten einer weltweiten Pandemie.

 

Und was tue ich?

Ich warte ab - genau so wir ihr alle auch.

Tanzania hat mich in den vergangenen 9 Jahren vor allem etwas absolut erfolgreich gelehrt: Gelassen zu warten. Und dafür bin ich inzwischen wirklich dankbar.

Ich beobachte die Situation und Geschehnisse auf der Welt und nutze die Zeit zu lernen, mit Langeweile umzugehen.


Und natürlich ist es fatal, wenn das Corona-Virus hier genauso ausbricht, wie in Europa und in den USA. Das kaum vorhandene Gesundheitssystem würde innert wenigen Tagen komplett zusammenbrechen und die Bevölkerung würde dahinraffen.

Und auch die wirtschaftlichen Auswirkungen sind bereits jetzt prekär: Tanzania ist zum grössten Teil vom Import abhängig. Es ist eines der Länder, welches am meisten Gelder für die Entwicklungshilfe empfängt und die Einnahmen in der Tourismusbranche sind für das Land entscheidend. Die Corona-Krise zeigt nun in voller Härte, wie stark Tanzania von anderen Ländern abhängig ist und ich hoffe sehr, dass diese Abhängigkeit dem Volk nun nicht ganz zum Verhängnis wird.

Aber auch da hat mich Tanzania etwas gelehrt: Die Fähigkeit einen Tag nach dem Anderen anzunehmen.

Schlussendlich hilft ja alles nichts. Wir wissen nicht, was in den nächsten Monaten alles noch geschehen wird und es nützt uns nichts, wenn wir uns darüber den Kopf zerbrechen. Somit nehme ich jeden Tag, wie er kommt und versuche das Beste daraus zu machen - so, wie ihr dies bestimmt auch tut. :-)



 
 
 

תגובה אחת


rgbruhwiler
rgbruhwiler
12 באפר׳ 2020

Liebe Rahel

Mit Interesse haben wir deinen eindrücklichen Bericht gelesen. Herzlichen Dank.

Wir haben von neuem den Newsletter des Bagamoyo Freundeskreises angeguckt und sind etrwas besorgt, wie scheinbar widersprüchlich und unkoordiniert die Massnahmen der Regierung sind.

Dir und Gorge wünschen wir guten Mut und Zuversicht in eurer beruflichen Situation. Persönlich schafft ihr das sicher gut.

Seid herzlich umarmt

Rita und Gusti

לייק
bottom of page